Der Impuls zum Mai dieses Jahres versetzt uns in den Frühling 1920, genau vor hundert Jahren. Gertraud von Bullion hatte eine besondere Gabe, die Sprache der Natur zu lesen und sie ernst zu nehmen. In den Vorgängen der Natur nahm sie eine Einladung zum inneren Dialog mit Gott wahr. Das folgende Zitat stammt aus einem Brief vom 24. April 1920 an einen ehemaligen Kameraden aus dem Ersten Weltkrieg, Nikolaus Lauer. Gertraud bereitet sich vor auf ihre Aufnahme in Schönstatt, die ihre Sehnsucht erfüllen soll, Gott ganz zu gehören. Die Natur erblüht in voller Pracht – für sie ein Bild der Vorbereitung auf das Fest. Wie sieht im Vergleich dazu die Vorbereitung ihres Herzens aus? Hier die poetische Meditation der jungen Gräfin:
„Bei uns liegt nun auch des Frühlings Zauberpracht über Baum und Strauch, das einsamste Winkelchen hat ein Festgewand angelegt, es ist, als schmücke sich alles zu dem einen großen Fest der Liebe. Und wir Menschenherzen? Wenn meine Augen glücktrunken die Schönheit ringsum schauen und trinken, schleicht sich ein leiser Zug der Trauer in meine Seele. In hochzeitlichem Schmuck steht die Natur, Hochzeit darf auch meine Seele bald feiern, aber wie prunklos ist das Brautgewand, wär’s eine Fülle der Blüten, wie müsste es das Auge des Meisters entzücken. Aber vielleicht sieht sein liebend Auge die heimlichen Knospen, von denen wir selbst nichts wissen, und streicht darüber mit seinen Wunderhänden, dass sie zitternd erglühen und erblühen, ihn zu erfreuen.“
Die Sprache der Natur verstehen
Gertraud greift diese Sprache der Natur ernsthaft auf und versucht, ebenfalls ernst dem Ereignis der Aufnahme in Schönstatt entgegenzugehen. Letztendlich hofft sie aber gelassen auf die verstehende und allwissende Liebe des Bräutigams, welcher allein die „heimlichen Knospen“ der Liebe kennt und zum Erblühen bringen kann. Eine reife Frucht des längeren Auf-dem-Weg-Seins mit Christus. Sich-Einlassen auf Gott ist ein Sich-Einlassen auf einen „Bündnispartner“, der die andere Seite des Gnadengeschehens ist. Er vollendet die Sehnsucht des Herzens, das „Erblühen“ der Knospen.
Mai – der schönste Monat!
Im Lobpreis der Gottesmutter verbunden.
In demselben Brief freut sich Gertraud auf den Monat Mai, der bald Einzug halten wird. Sie teilt diese Freude mit Nikolaus Lauer und erinnert ihn an die Maiandachten, die beide im Lazarett in Mons während des Krieges vorbereitet und gehalten haben:
„In ein paar Tagen haben wir Mai, den holdesten der Monate. Ist es da nicht wie ein dauernd Singen und Klingen in unseren Seelen: ‚Ave, ave Maria! Regina cœli, laetare!‘ In Ihrem Seminar wird sicher die Maienkönigin in tausend Weisen umjubelt und geehrt. Wissen Sie noch unsere Monser Maiandachten, Ihrer aller großen Eifer! Was war das für eine Herzensfreude für mich! Selige Erinnerungen!“
Und dann schlägt sie die Brücke zur Gegenwart und wünscht und erhofft, dass das Lob Mariens sie beide um die Maikönigin vereint:
„Der Maienmonat möge uns, wenn auch örtlich getrennt, wieder vereinen im Lob und Preis unserer Königin, die keine Revolution uns entreißen kann! Ihr göttliches Kindlein segne Sie. In ihm grüße ich Sie von Herzen, Ihre Schwester Gertraud.“
Dr. Alicja Kostka