Die Mitteilungen des Gertraud-Sekretariats tragen ab 2020 einen neuen Titel: „Leben gestalten“. Der Titel möchte an den immer aktuellen Auftrag der Christen erinnern, die Geschichte verantwortlich mitzugestalten. Gleichzeitig richtet der Titel den Blick auf Gertraud von Bullion, welche die Geschichte der Frau im XX. Jahrhundert durch eine wesentliche Wendung mitbestimmt hat. An diese essentielle Aufgabe der Christen erinnert ebenfalls Papst Franziskus in seinem Apostolischen Schreiben „Gaudete et exultate“ über den Ruf zur Heiligkeit in der Welt von heute (19.3.2018).
Christen – Gestalter der wahren Geschichte
Papst Franziskus stellt das Thema der Berufung zur Heiligkeit in Kontext zu den Heiligen „von nebenan“, also zu denen, „die in unserer Nähe wohnen“ und – mit Worten von Joseph Malegue – „die Mittelschicht der Heiligkeit“ sind; die einfachen Glieder des Volkes. Viele von ihnen – so der Papst im Hinblick auf die Heilige Edith Stein – wurden zu Gestaltern der wahren Geschichte“. Edith Stein bemerkt nämlich: „zum großen Teil bleibt der gestaltende Strom des mystischen Lebens unsichtbar; von vielen von ihnen, die entscheidende Wendungen in der Weltgeschichte mitbestimmt haben, wird kein Geschichtsbuch geschrieben“. (GeE, Nr 8)
Die Stunde erkennen und den Schritt wagen
Gertraud hat die Geschichte mitgestaltet durch das Erkennen der Stunde: in der Apostolischen Bewegung von Schönstatt den Frauen Raum zu gewähren, und zwar im Apostolischen Bund – damals einer Gemeinschaft nur für „Führungsleute“ (Führungsschicht) auf dem Gebiet des Apostolates. Für manche Männer damals war es nicht selbstverständlich, dass die Frauen auch dazu gehören dürfen; für Gertraud aber wohl. Und sie hat diesen Schritt gewagt. Ähnlich wie Pater Josef Kentenich – erkannte sie die Stunde. Und er, der Gründer dieser Bewegung, hat dieses „Drängen“ als Zeichen der Zeit und Zeichen Gottes aufgenommen. In der persönlichen Weihe an die Gottesmutter von Schönstatt am 8. Dezember, die Gertraud mit ihrer Cousine vollzogen hat, sieht die Frauenbewegung ihre „Geburtsstunde“. Pater Kentenich nannte diese Stunde, „eins der allerwichtigsten Ereignisse“ in der Geschichte der Frauenbewegung Schönstatts und „das Denkwürdige in der Frauengeschichte“ insgesamt (Ansprache am 8.12.1940).
Der Aufruf der Stunde heute
Wenn wir die geistliche, kulturelle und soziale Landschaft der Kirche und der Welt heute anschauen, so merken wir, wie viel in Bewegung geraten ist, was die Frau, ihr Selbstverständnis und ihre Selbstbetätigung betrifft. Es geht nach wie vor darum, dass die Frauen die Geschichte – auch die Geschichte der Kirche – aktiv und mitverantwortlich mitgestalten, auch durch Partizipation an Entscheidungen auf der Leitungsebene. Dieses Anliegen bringt Maria 2.o zum Ausdruck und sie sucht nach Wegen, neue Wirkungsräume der Frau in der Kirche zu öffnen. Mittlerweile wurde dieses Anliegen in eins der vier zentralen Foren der Synode aufgenommen „Frauen in Diensten und Ämtern der Kirche“. Die Geschichte wiederholt sich in zyklischen Kreisen – war der Gründer Schönstatts, Pater Josef Kentenich, überzeugt. Tatsächlich kann man dieser Beobachtung zustimmen, wenn wir „das innere Erdbeben“ in der Frauenwelt heute beobachten und wahrnehmen. Wohin will uns diesmal der Geist führen? Welchen Vorstoß braucht es heute?
Gestalten als Frau. Wie Maria.
Die Bedeutung Gertrauds bestand darin, der Frauenbewegung von Schönstatt zum Durchbruch zu verhelfen, sie in einem „weiblichen Stil der Heiligkeit“ (GeE, Nr 12) zu entfalten und sich entfalten zu lassen. Ihre vielen Briefe und Schriften geben reichen Einblick in diesen entscheidenden Anfang und inspirieren immer neu. Der Zugang zu dieser christlichen Bewegung, die sich an Maria orientiert, ist allen Frauen offen. Und war nicht gerade Maria die Frau, die die Geschichte der Menschheit für immer verändert hat: sie trug Gott in ihrem Schoße und wurde zur Mutter aller Menschen. Sie ist keine Randfigur in der Geschichte der Menschheit; sie wirkt weiter in der Geschichte der Kirche, vor allem dort, wo sie auf offene Herzen trifft. Auch heute sucht sie Verbündete, die diese Welt besser machen und immer neu in Verbindung mit Gott bringen. Ihr bleibender Auftrag.
Dr. Alicja Kostka