Unsere moderne Spiritualität besteht großenteils darin, mitten im Alltag Gott zu suchen und ihn zu finden, aber nicht weniger darin, sich von ihm immer neu finden zu lassen. Ihn zu suchen und seiner Gegenwart auf die Spur zu kommen, verlangt Stille und Achtsamkeit, es verlangt auch Geduld und manche Wüstenstrecken auszuhalten, wo seine Gegenwart sich unserer Wahrnehmung entzieht. Hier war Madeleine Delbrêl (1904 -1964), dreizehn Jahre jünger als Gertraud, die Pionierin einer solchen Mystik im Alltag. Sie hat Gott auf den Straßen von Paris gesucht und ihn in den Armen, in den bedürftigen Kindern, aber auch in Ereignissen der Stadt gefunden. Ihr Gedicht: „Der Ball des Gehorsams“ ist eines der hinreißenden Beispiele dafür.
Eine Anfängerin in der Kunst, Gottes Liebeserweise zu entdecken
Auch Gertraud von Bullions tägliches Leben war von dieser beständigen Suche nach Gottes Gegenwart gekennzeichnet. In einem Brief an Gertrud Uphus vom 15.3.1926 bekennt sie, dass sie in dieser Kunst erst zu buchstabieren beginnt:
„Weißt Du, wenn wir so ganz erfüllt wären von dem Gedanken, dass Gott unser lieber Vater und dass alles, was er fügt und tut, gut ist, dann müssten wir die heitersten Geschöpfe der Erde sein. Du hast schon ein gut Teil davon. Ich fange erst an zu buchstabieren. Sing mir Dein Lied des Vertrauens nur recht oft vor.“ (BS, 284)
Seine leise Gegenwart erfahren
Tatsächlich hat Gertraud diese leise Präsenz Gottes immer wieder erfahren dürfen, wenn sie mit Achtsamkeit die umgebende Welt wahrnahm. Sie erlebte sie dann als Geschenk, ja als Gnade, die ihre Liebe zu dem – so oft überraschend – entgegenkommenden Gott weckte:
„Wohin wir schauen, alles ist Gnade, und dazu täglich, ja stündlich oft die rührendsten Aufmerksamkeiten! Es macht warm, wenn wir frieren; wenn wir mit neu geschärftem Blick der ‚Aufmerksamkeiten‘ achten, dann muss Gegenliebe erwachsen in unserm Herzen, es ist gar nicht anders möglich.“ (BS, 445 f.)
Das Suchen freut Gott mehr
Dabei freut Gott gerade unser Suchen – so die Überzeugung Gertrauds –, auch wenn es uns – nicht selten – einiges kostet. Dieses Suchen selbst ist schon ein Beweis unserer Liebe. Diesen Beweis wollte Gertraud Gott schenken und ließ sich von seiner Gegenwart beschenken, immer wenn er sich finden ließ.
„Was schadet unsere Vergesslichkeit? Ist nicht das Zurückkehren zu Gott ebenso oft ein Beweis unserer Liebe, die ihn sucht und ohne ihn nicht sein kann? Wenn Gottes Gnade uns das Gefühl seiner Gegenwart schenkt, ist von unserer Seite nichts geschehen. Ob das Suchen den lieben Gott nicht mehr freut?“ (BS, 445). Deswegen ihr Rat und ihre Haltung:
Nicht aufhören, ihn zu suchen…
„Wir tragen unser Licht, unser Glück, unseren Reichtum im Herzen – Gott – und niemand kann uns wirklich schaden… Gott gehört uns! Böse Zeiten sind nur die für uns, in denen Gott sich verbirgt und wir ihn nicht mehr suchen.“ (5.12.1919)
Auf diesem Weg des Suchens und Findens konnte sie nach und nach zur Überzeugung gelangen: „Denke daran, dass die Kraft, die dich trägt durch Dein Leben, nicht heißt: ‚Ich liebe den Herrn!‘, sondern: ‚Der Herr liebt mich!‘ (BS, 258).
Dr. Alicja Kostka
BS – Gertraud von Bullion. Aus Ihren Briefen und Schriften, Neuwied 1981.