Auszug aus der Mitteilung – Barmherzigkeit
Mit zwei schweren Taschen beladen gehe ich auf eine verschlossene Tür zu. Also: Tasche absetzen, Tür öffnen … Doch auf einmal wie aus dem Nichts taucht ein junger Mann auf, macht die Tür mit einem freundlichen „Bitte schön“ auf, und ist weg. Ich kann nur kurz „Danke“ sagen.
Dieses „kleine“ Werk der Barmherzigkeit offenbart einige Wesenszüge dieser Haltung. Das Erbarmen ist umgeben von vielen guten Eigenschaften. Offenheit, Achtsamkeit und Aufmerksamkeit für die Lage des anderen. Der junge Mann hatte gemerkt, worauf es ankam. Er musste nicht erst gebeten werden, zu helfen. Er war nicht gefangen in den eigenen Problemen oder Gedanken. Er zeigte Hinwendung zum anderen statt Gleichgültigkeit oder gar Verachtung. „Die kann das doch selber.“ oder „Was geht mich das an?“ Freundlichkeit, ein gütiges Herz, das dem Mitmenschen das Leben leichter machen will. Handeln ohne Berechnung, ohne auf einen Lohn zu schauen, einfach gut sein wollen.
Achtsamkeit verändert das Klima
Und was bewirkte die Hilfsbereitschaft des jungen Mannes bei mir? Sie war wie ein Sonnenstrahl an einem trüben Tag. Auf einmal ging alles besser und der Gedanke: „Es gibt doch nette, liebe Menschen“ war der frohe Begleiter durch den Tag. Barmherzigkeit hat noch mehr Fassetten: Verständnis, Nachsicht, Rücksicht, Versöhnungsbereitschaft, Verzeihen, Ehrfurcht, Geduld … Das Leben Gertraud von Bullions ist geprägt von Barmherzigkeit. Sie meldet sich freiwillig zum Dienst als Rot- Kreuz-Schwester. Hier ist ihr keine Arbeit zu schwer oder zu gering. Über ihre Arbeit als Wäscheschwester schreibt sie nicht ohne Humor:
„Besondere Liebe und Geduld verlangte das Kapitel Socken.“ Besonders die Eigenschaft der Güte hat sie angesprochen. „Gütige Augen müssen wir haben, sie vergolden den ärmsten Winkel… Im gütigen Urteil ist der Untergedanke stets: Ich sehe ja nicht in den Menschen hinein, kenne nicht alles, was drum und dran hängt und ob ihn überhaupt eine Schuld trifft, … Güte ist auch praktische Demut, weil sie alles mit einer selbstverständlichen Schlichtheit tut, so dass es niemand als ein Sichhervortun- Wollen empfindet.“
Erbarmen erfahren und schenken
Dass diese Hinwendung zur Güte mehr ist als ein Seidnett- zueinander, zeigen andere Stellen in ihren Briefen. „Wenn wir erst einmal das Geheimnis der Demut erfasst haben…, dann erwarten wir ja nichts mehr von uns… Unser ganzes Harren und Hoffen steht bei Gott und seinem Erbarmen. Niemand kennt ja unsere Schwächen besser und trägt ihnen mehr Rechnung als unser himmlischer Vater.“
Noch kurz vor ihrem Tod weist sie auf Gottes Barmherzigkeit hin: „O, ist denn das nicht Gewissheit, dass meiner die größte Überraschung harrt, werde ich doch dann erst erfassen die unerschöpfliche Barmherzigkeit des guten himmlischen Vaters mit der er mich stündlich umgibt.“ Wer sich täglich bewusst macht, wie sehr er oder sie vom Erbarmen Gottes und vom Verständnis seiner Mitmenschen lebt, der wird auch selbst seinen Nächsten barmherzig begegnen.
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