… damit sie zu uns sprechen kann
Dem aktuellen Thema der Bewahrung der Schöpfung widmete der neue Bischof von Augsburg, Dr. Bertram Meier, sein erstes Hirtenwort. Er hat es parallel zur neuen Enzyklika von Papst Franziskus Fratelli tutti am 4. Oktober 2020, dem Fest des heiligen Franziskus, signiert. Der Heilige von Assisi hat uns – so Bischof Bertram Meier – „mit seinem Sonnengesang … ein wunderbares Loblied auf die Schöpfung hinterlassen.“ Mit seiner außergewöhnlichen Aufmerksamkeit trat Franz von Assisi in einen Dialog mit den Geschöpfen ein, die eine eigene Sprache sprechen. Deshalb regt Bischof Meier – mit dem Blick auf Franziskus – an: „Im Staunen über die Schönheit alles Geschaffenen ruft er uns auf, Gott in all seinen Geschöpfen zu loben.“
Gott in seinen Geschöpfen zu loben, das heißt auch, sie sprechen zu lassen
Auch Gertraud von Bullion besaß die Fähigkeit, die Sprache der Natur aufmerksam wahrzunehmen. Jede Jahreszeit bot ihr die Gelegenheit, dieser Sprache aufmerksam zu lauschen und in einen stillen, persönlichen Dialog mit den Geschöpfen einzutreten. Im aufmerksamen Hinhören vernahm sie die Botschaft der Natur, die sie an sie persönlich gerichtet empfand.
Hier möchte ich zwei prägende Beispiele nennen: einmal im Blick auf den Frühling und einmal im Blick auf den Übergang und den Zusammenhang von Herbst und Winter. Es sind einige von mehreren Beispielen.
Die Natur half ihr, die Vorgänge, die sich in ihrem Inneren vollzogen, besser zu erkennen und zum tieferen Verstehen des Schöpfers und zu ihrem Weg der Vereinigung mit ihm zu führen. Bei beiden Impressionen fällt ihre poetische Sprache auf, die das Symbolische der Vorgänge der Natur gekonnt und eindrucksvoll wiederzugeben vermochte.
Ein Spaziergang wird fast zum Gebet
„Gemeinsam durften wir den herrlichen Frühling genießen, und noch nie erschien er mir so wunderbar. Jeder Spaziergang wurde mir fast zum Gebet, sei es, dass wir unter den bräutlich blühenden Obstbäumen dahinschritten oder zu den jungfräulich frischen Buchenwäldern hinan stiegen. Die Frühlingspracht riss mein Herz empor zur ewigen, unvergänglichen Schönheit. In solchen Stunden erfüllt Dankbarkeit mein Herz, dass ich um die Existenz Gottes, unseres Vaters weiß, dass ich seine Nähe fühlen darf“ (SERVIAM 1991, 170; BS 451).
Wenn die Bäume blühen, lieben sie…
„Wenn ich im Frühling einen blühenden Baum sehe, muss ich immer an eine Seele denken, die im Brautschmuck der Gnade steht, und aus dem Herzen steigt jedes Mal die Bitte: Herr, lass auch meine Seele übersät sein mit Blüten, die die Liebe hervorbringt. Denn wenn die Bäume blühen, lieben sie – und wenn eine Seele liebt, blüht sie in Gottes Augen herrlicher als ein mit Blütenschnee überladener Birnbaum. Wie viele Blüten aber muss ein Baum treiben, um nur einige Früchte zu tragen? Wie oft muss sich unser Herz zum Schwur der Liebe erheben, bis ihm die Kraft zur Opferfrucht wird? – Viel Blüten muss ein Baum tragen, bis er eine Frucht zeitigt, viel Liebe muss in einer Seele glühen, bis sie zum Opfern fähig wird“ (SERVIAM 1991, 171; BS 451).
Wenn die Kahlheit unter dem Schmuck der Gnade verschwindet
„Als ich seinerzeit im Schwarzwald war, hatte ich vorn an der Liegehalle ein Tannenästchen angebracht. Eines Morgens fielen die Schneeflocken drauf, und ich konnte beobachten, wie von Viertelstunde zu Viertelstunde das Zweiglein sich beugte und wie immer mehr Flocken darauf niederfielen. Es war kaum zu begreifen, wie dies schwache Ästlein eine Schneelast von mindestens fünfzehn Zentimetern Höhe zu tragen vermochte. Damals erfasste mich gar übermächtig der Gedanke an die von der Gnade überschüttete Seele. Und willkürlich muss ich dies Bild mit jenem der kahlen Bäume verbinden. Unhörbar senkt sich die Gnade nunmehr herab, und sie allein bildet jetzt den blendenden Schmuck der Seele. – Wenn nun die Menschen in Rufe des Entzückens ausbrechen, den Baum in Freuden betrachten und bewundern, so ist es der Schnee und nicht der Baum, den sie bewundern. So möge es auch einmal bei uns werden: Das Gnadenwirken mögen die Menschen, die dafür Sinn haben, an uns bewundern – wir selbst, unsere Kahlheit und Nacktheit verschwinden dann mehr und mehr unter der überfließenden Güte Gottes!“ SERVIAM 1991, 171-173; BS 361 f.)
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Das Notizbuch lädt dazu ein, den eigenen Weg mit Gott anzubahnen, ihn zu vertiefen oder zu reflektieren. Gottes Nähe zu entdecken und – in kleinen Zeichen der Dankbarkeit – festzuhalten, seine Ferne – vertrauensvoll – zu hinterfragen und auch – wenn`s schwer wird – auszuhalten. Darin war Gertraud geübt. Sie erfuhr dabei verblüffend, er versteckt sich, um sich noch mehr finden zu lassen. Auch dafür ist die Natur, die Schöpfung da, die geheimnisvolle Präsenz Gottes zu suchen und zu entdecken. Damit es möglich ist, müssen wir die Natur schützen und ihr mit Respekt begegnen.
Dr. Alicja Kostka
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