Die Kunst des Liebens erlernen

Eine Inspiration

Unter dem Titel: „Die Kunst des Liebens“ (original: The Art of Loving, New York 1956) hat der Sozialpsychologe Erich Fromm eines seiner bekanntesten Bücher geschrieben. Er hat sich mit dem in der westlichen Welt dominierenden Verständnis der Liebe auseinandergesetzt. Einem egozentrischen, fast marktwirtschaftlichen Verhalten bei der Liebe, welches Probleme allein beim Gegenüber sehen lässt, setzt er die Verschiebung der Perspektive auf die eigene Fähigkeit zu lieben entgegen, eben: auf die Kunst des Liebens. Damit nimmt er die Liebe als Fähigkeit in den Blick, die Pflege der Liebe, ihre Entfaltung, kurzum: die Liebe als Prozess.

Gelebte Vorbilder

Wo schöpfe ich meine Inspirationen, wenn es darum geht, in der Liebe zu wachsen? Wo sind meine Referenzpunkte und Personen, Menschen, bei denen ich lerne, was es heißt, zu lieben?

Unsere Liebesfähigkeit orientiert sich am besten an gelebten Vorbildern, Menschen, die in ihrem Leben die Liebe gelebt und ausgestrahlt haben. Gleichzeitig erlebt jeder Grenzen in der eigenen Liebeserfahrung, wie schön und tief sie auch ist. Die Liebesfähigkeit bedarf Reinigung, manchmal Heilung, damit sie all ihre Kräfte entfalten kann.

Eine besondere Quelle und Inspiration

Im Monat Juni werden wir mit einer besonderen Quelle der Liebe konfrontiert und durch die Liturgie dahin geführt: es ist das Herz Jesu. Wir feiern in diesem Jahr das Hochfest am 16. Juni. An Jesus können wir konkret ablesen, was es heißt, zu lieben bis zur Vollendung (vgl. Joh 3,16). In der Anbetung des göttlichen Herzens, das uns in der Eucharistie geschenkt wird, können wir lernen, dass Liebe alles überwinden kann, sogar Angst, Leid und Tod. Jede Szene aus dem Evangelium veranschaulicht das auf einmalige Weise. Daher ist es eine gute Gelegenheit, uns in diesem Herzen zu „spiegeln“, d.h. das Herz Jesu als Spiegel unserer eigenen Liebesfähigkeit und -bedürftigkeit zu nehmen. In der Herz-Jesu-Litanei beten wir: „Bilde unsere Herzen nach deinem Herzen“.

Auf die Liebe Antwort zu geben

Diesen Spiegel hat Gertraud von Bullion gerne benutzt, um ihr eigenes Liebespotenzial zu entfalten, zu reinigen und zu steigern. Vor allem war ihr Verlangen, auf diese Liebe eine gebührende Antwort zu geben. Dabei ist sie nicht selten an ihre eigenen Grenzen gestoßen. Einmal klagt sie schmerzhaft:

Bei mir ist es so oft, als müsste mir das Herz brechen vor Leid, dass ich den Heiland nicht lieben, nicht so lieben kann, wie ich möchte, wie ich sollte, wie es ihm, …, gebührt. Ich wünsche nichts sehnlicher, als sterben zu dürfen, damit dieser Zustand der Kälte endlich vorüber wäre. Denn wie tief verwunde ich das liebeflammende Herz Jesu damit! Könnte ich mein Herz herausreißen, um es anders zu machen, fürwahr, kein Schmerz sollt’ mir zu groß sein!

Serviam, Seite 174

Die melancholische Note ihres Temperaments hat Gertraud mit ihren Grenzen gegenüber den Menschen konfrontiert. Nicht immer konnte sie sich so ausdrücken, wie es ihrer Sehnsucht entsprach. Sie litt darunter, dass sie die Menschen innerlich beurteilt hat. Das entsprach nicht der Größe der Liebe, mit der sie sich in der Anbetung des göttlichen Herzens konfrontiert sah. Dennoch schaute sie immer wieder auf das Herz Jesu, betete es an und bat innig, dass er, der Gott der Liebe, ihre eigenen Grenzen sprengen möge. Gerne verband sie sich mit dem Herzen Jesu und schöpfte daraus Kraft zu einem Neustart:

In seine Herzenswunde schließe ich mich ein, damit nichts mehr mich von ihm los bringe. Tagsüber denke ich öfters wieder an die Morgenstunde bei der heiligen Messe und heiligen Kommunion zurück, um mich immer wieder zu opfern für die Rettung der Seelen.

Briefe und Schriften, Seite 293

Gertraud war es sehr wichtig, in Verbindung mit dem göttlichen Herzen zu leben und zu lauschen, um seine Wünsche als Erlöser der Welt zu erkennen. Er hat ja so viel, Alles, eingesetzt, damit wir das Leben haben und es in Fülle haben (Joh 10, 10). Seine Erlösungstat in der Hingabe seines Lebens steht somit in Beziehung zu jedem und jeder von uns.

Eine Liebe, die im Alltag wächst

Gertraud war bemüht, zuerst ihr eigenes Herz für Jesus vorzubereiten. Sie war sich bewusst, dass dies ein langer Prozess ist. In einem etwas „heldenhaften“ Stil ihrer Zeit schreibt sie an ihre Mitstreiterinnen auf dem Weg der Heiligkeit:

Das Königreich des eigenen Herzens restlos dem Heiland zu erobern ist unsere erste Kampfesarbeit. Sie leisten wir nicht im Sturm eines Tages oder einer Woche, nein Monde und Jahre vergehen darüber, und Sieg und Niederlage werden wechseln, bis wir unser Leben in diesem Kampf geopfert, unser Herzblut für unsern König vergossen haben. Und die Annalen dieses Krieges sind die kleinen Blättchen unserer Tagesordnung und des Partikular-Examens[1], in denen Tag für Tag geschrieben steht, ob wir treu und mutig den Kampf gewagt, ob wir uns Wunden schlugen und wie Christi Königtum Schritt für Schritt an Raum und Boden gewonnen.


[1] Eine geistliche Übung ist damit gemeint, die einzelne Tugenden in den Blick nimmt, um sie zu vervollkommnen oder einzelne Schwierigkeiten des Charakters, um sie Schritt für Schritt zu bekämpfen.

Briefe und Schriften, Seite 304

Dabei bleibt sie nicht bei sich stehen, sondern lädt ihre Mitschwestern ein, in der Liebe zu Jesus zu wachsen, so wie dies jede kann. Der Liebe Jesu zu antworten und sie den Mitmenschen weitergeben, jede in ihrer Art, in ihrer Arbeit, in ihrem Wirkungsfeld.

Schwestern, ein König bittet! Ein König bedarf unser, er will unser bedürfen – er bräuchte es ja nicht. – Ich weiß, Ihr arbeitet in seinem Dienst, Ihr tragt seine Liebe hinaus zu den Armen und Kranken und lindert ihre Nöte. Schwer ist Euer Beruf, und Tröpflein sind Eure Worte, Eure Gaben in dem Meer des Elends. O erlahmet nicht, trotz all des Bitteren, was Euch erwartet. Holt Euch die Schätze Eures Königs ins Herz, und Ihr könnt daraus schöpfen, ohne arm zu werden. Trinkt seine Weisheit, seiner Tugend Beispiel in einem halben Stündlein Lesung trotz Arbeitsfülle und Müdigkeit, füllt Eure Herzen an mit Liebesgluten beim Mahl der Liebe an seinem Tag und noch oft am Alltag, bringt Euer Leid und Eure Sorgen und Mühen zum Tabernakel einen jeden Tag.

Briefe und Schriften, Seite 305

Alicja Kostka