Am 13. Juli 2021 erschien auf dem Portal www.vatican.news ein Interview mit dem neuen Präfekten der Kongregation für Selig- und Heiligsprechungen Kardinal Marcello Semeraro. Der Titel des Artikels: Zu Besuch in der „Fabrik der Heiligen“. Tatsächlich wird die Kongregation für Selig- und Heiligsprechungen, die sich links vor dem Petersplatz an der Piazza Pio XII befindet, auch schon mal fabbrica dei santi – Fabrik der Heiligen genannt. Im Interview erklärt der enge Vertraute von Papst Franziskus das Prozedere einer Heiligsprechung, die in der Kirche eine lange Tradition hat. Die Begegnung mit Heiligen, Vorbildern gelebten Glaubens, sollen zur Verlebendigung des Glaubens beitragen.

Worum geht es aber bei der Heiligkeit? Steht die Heiligsprechung im Vordergrund – nicht alle Menschen können heiliggesprochen werden – oder geht es um die Vollendung des Seins, um die Durchdringung des Menschen mit der Gnade Gottes, um die Mitarbeit bei der Erfüllung göttlicher Pläne? Jede Epoche setzt neue Akzente im Verständnis dieser grundlegenden christlichen Berufung zur Heiligkeit. Welche Akzente stehen heute im Vordergrund?

Papst Franziskus: Neue Sicht auf die Heiligkeit

Mit Papst Franziskus – so Kardinal Semeraro – kam eine neue Sicht auf die Heiligkeit, die die „alltägliche“ Heiligkeit in den Mittelpunkt stellt:

„Der Papst hat eine sogenannte Apostolische Exhortation über die Heiligkeit geschrieben – darin steht eine Formulierung, die nahezu berühmt geworden ist, nämlich ‚die Heiligen von nebenan‘. Das ist die alltägliche Heiligkeit, die wir alle leben sollen, und das Zweite Vatikanische Konzil spricht ja in seiner Konstitution über die Kirche von der ‚allgemeinen Berufung zur Heiligkeit‘. Diese Berufung richtet sich nicht an außergewöhnliche Personen, an Helden. Nein, wir alle sind zur Heiligkeit berufen, und zwar seit unserer Taufe.“

Gertraud: Die Heiligkeit des Alltags 

Wer das Leben Gertraud von Bullions betrachtet, der bekommt unwiderstehlich den Eindruck, dass es bei ihr vor allem um diese „alltägliche“ Heiligkeit geht. Dies entspricht dem Anliegen des Gründers der Schönstattbewegung Pater Josef Kentenich. Er animierte zu einem Leben der Heiligkeit mitten im Alltag, zur „Werktagsheiligkeit“ und begleitete unzählige Menschen auf diesem Weg. Auch Gertraud als eine der ersten Frauen dieser Bewegung begab sich auf diesen Weg mitten in weltlichen Pflichten und Angelegenheiten. Ein Wort, das sie auf einem Zettel niedergeschrieben fand und ausdrücklich auf die Heiligkeit hinweist, gab sie in ihrem Adventsbrief 1924 an ihre Mitschwestern weiter:

„Unsere Heiligkeit, das ist der Berg, der aus Sandkörnchen gebildet wird, der Strom, der durch Wassertropfen anschwillt. Ein zurückgehaltenes Wort…, eine Regung der Launenhaftigkeit, ein Aufbrausen des Charakters augenblicklich unterdrückt…, das Versagen… einer Bequemlichkeit … – das ist eine kleine, aber doch so große Treue. Sie ist dem menschlichen Blick verborgen, aber wunderbar sichtbar dem Blick des Heilandes. Sie zieht Ströme von Gnaden herab; sie verschafft der Seele einen tiefen und festen Frieden, eine ungekannte Heiterkeit. Und all diese Kleinigkeiten hängen von uns ab; wenn wir es wollen, können wir sie üben. Ein Gedanke, ein Blick, ein Lächeln, ein Wort kann uns beflecken oder heiligen.“

Ob aus unseren Reihen ein Heiliger hervorgeht?

Diese Frage stellte Pater Kentenich bereits 1914 am Beginn der Schönstattbewegung in einem Vortrag an die Mitglieder der Marianischen Kongregation in Vallendar. Nicht wenige Sodalen haben diese Frage ernst genommen. Aus der jüngsten Klasse, die 1912 in Vallendar begonnen hatte und die Pater Kentenich als junger Spiritual begleitet hat, dürfen wir heute einen Seligen, Richard Henkes (1900-1945), verehren. Einen weiteren Sodalen aus dieser Anfangszeit, Josef Engling (1898-1918), als künftigen Seligen hoffnungsvoll erwarten. Sein Prozess ist in der „Fabrik der Heiligen“ in Rom weit fortgeschritten.

Dieselbe Frage stellte Pater Kentenich auch den Frauen, die sich der 1920 gegründeten Frauenbewegung von Schönstatt anschlossen. Gertraud hat diese Frage sehr ernst genommen. In einem Bericht hören wir ihre Resonanz auf die Worte des Gründers:

„Im Kapellchen durften wir dem Schlussvortrag lauschen: … Wir scheiden, doch unsere Herzen bleiben hier; wir müssen den Bund mit der Mutter verbunden halten. – … Als gottgewolltes Werk müssen Heilige aus dem Bund hervorgehen; dass sie aus unseren Reihen erstehen mögen, muss unser großer Wunsch sein; und können wir selbst es nicht sein, so ist es unsere Aufgabe, die Atmosphäre der Heiligkeit zu schaffen, die Schulter zu reichen, auf der andere stehen und weiterbauen.“

Die Atmosphäre der Heiligkeit zu schaffen helfen

Diese Atmosphäre zu schaffen, in denen neue Heilige wachsen und reifen können, war Gertrauds lebendiges Anliegen. In einem Brief an ihre Mitschwestern, für die sie verantwortlich ist, verdeutlicht sie diese Zielsetzung: 

„Wir müssen die Atmosphäre der Heiligkeit schaffen helfen, aus der im Bund Heilige hervorgehen können. Was heißt das? Müssen wir außergewöhnliche, augenfällige Dinge tun? Nein, im Gegenteil, je weniger wir auffallen, desto besser. Und doch müssen wir Außergewöhnliches tun insofern, als wir das Kleine, Alltägliche außergewöhnlich gut tun.“ 

In einer Ansprache im September 2016 anlässlich Gertrauds 125. Geburtstages hob der jetzige Bischof Bertram Meier aus Augsburg (damals Domdekan) diesen Weg der gelebten Heiligkeit Gertrauds deutlich hervor: 

„Im Lauf des Lebens hat die Gräfin gelernt, was das heißt: sich nicht selbst in den Mittelpunkt rücken; selbst abnehmen, damit ein Anderer zunehmen kann. Heiligkeit macht keinen Lärm. Heilige sind nicht Leute lauter Töne. Heilige sind leise. Oder in der Sprache Gertrauds, die sich an Maria wendet: „Mutter, wenn ich eine Heilige werden soll, so gib, dass niemand es merkt und ich es am allerwenigsten.“

Wahrhaftig, die einzig richtige Einstellung zur eigenen Heiligkeit. Eine Einstellung, die beeindruckt und bis heute die Menschen verblüfft und erstaunen lässt. Ob sie auch anspricht, sich selbst auf diesen Weg der Heiligkeit zu begeben?

Wir laden Sie ein, Gertraud als Heilige von nebenan besser kennen zu lernen. Dazu erscheinen in der kommenden Zeit auf dieser Website weitere Impulse.