Unsere Berufung zur Heiligkeit an der Hand Mariens

Mit einem wachen Herzen hat Gertraud von Bullion das Kirchenjahr verfolgt und sich vorausschauend auf kommende Feiertage innerlich und oft auch äußerlich vorbereitet. Zu dieser Vorbereitung lud sie die Menschen ein, mit denen sie auf dem Weg war, vor allem die Mitglieder des Apostolischen Bundes. Im Zugehen auf das Hochfest Allerheiligen am 1. November 1921 denkt sie – vielleicht überraschend für manch einen Leser – an die Gottesmutter Maria. In einem Brief schreibt sie an die Mitglieder ihrer Gruppe:

Habt Ihr bedacht, dass wir heute (1. November 1921) auch Marienfest haben? Wer ist die Krone aller Heiligen, wenn nicht unsere Mutter? 

Tatsächlich gehört der Gottesmutter Maria ein besonderer Platz unter den Heiligen, den sie durch ihre einmalige Antwort auf den Ruf Gottes und ihre beständige Treue auf dem Weg ihrer Erwählung und Berufung, erobert hat. Daher das Interesse Gertrauds an Maria, sie immer besser kennen zu lernen und mit ihr ein persönliches Verhältnis einzugehen. 

Dem Beispiel Mariens ablauschen 

Dazu regt sie auch Marie Christmann, ihre erste Gruppenschwester, an. In Maria sieht Gertraud das Vorbild für ihr gemeinsames Heiligkeitsstreben und stellt dabei insbesondere die Immaculata, die ohne Erbsünde Empfangene, in den Vordergrund. Ganz bewusst wollen sich die beiden an diesem Bild orientieren. In dem Brief zur Vorbereitung auf die Weihe an die Gottesmutter am 8. Dezember 1920 schreibt Gertraud:

Drum, liebes Mariele, wird es jetzt bei der Gründung der Gruppe unsere erste und schönste Aufgabe sein, das Verhältnis zu Maria lebendiger, inniger zu gestalten und ihrem Beispiel abzulauschen, wie auch unser Leben schön werde in den Augen Gottes, dass er mit Zufriedenheit und Wohlgefallen auf uns schauen kann. Kein Tag ist deshalb geeigneter zum Beginn unserer neuen Arbeit als das Fest der Unbefleckt Empfangenen. In ihrem Widerschein steht unsere Aufgabe klar und hell vor uns: Selbstheiligung, ein makelloses Leben nach der Mutter Vorbild und Apostel durch Beispiel und durch das aus der Liebe ‑ einer von irdischer Makel losgelösten Liebe ‑ hervorquellende Wirken für die anderen. (7.12.1920) 

Der Ruf zur Heiligkeit – eine Einladung an alle

Das Fest Allerheiligen, ist durch Halloween einerseits und das Gedenken aller Verstorbenen am Fest Allerseelen andererseits medial und nicht selten erlebnismäßig in den Hintergrund gerückt. Es verbindet uns doch mit allen, die ihre Berufung zur Heiligkeit als Christen angenommen und gelebt haben und offiziell von der Kirche als Heilige anerkannt wurden. Tatsächlich ist es ein Fest der Freude und des Staunens über die Wunder und Werke der Gnade, die Gott in einzelnen Menschen und ihren Biographien vollbracht hat. Die Heiligen verkörpern die Frohe Botschaft Jesu und geben sie weiter, ja sie tragen dazu bei, dass diese Frohe Botschaft real die Welt verändert. Dieses Fest erinnert uns aber auch in seinem Kern an die Berufung aller zur Heiligkeit, die in der hl. Taufe gründet. In seinem Schreiben über den Ruf zur Heiligkeit in der Welt von heute (Gaudete et exultate, 2018) erinnert Papst Franziskus:

„»Freut euch und jubelt« (Mt 5,12), sagt Jesus denen, die um seinetwillen verfolgt oder gedemütigt werden. Der Herr fordert alles; was er dafür anbietet, ist wahres Leben, das Glück, für das wir geschaffen wurden. Er will, dass wir heilig sind, und erwartet mehr von uns, als dass wir uns mit einer mittelmäßigen, verwässerten, flüchtigen Existenz zufriedengeben. Der Ruf zur Heiligkeit ist nämlich von den ersten Seiten der Bibel an auf verschiedene Weise präsent. So erging die Aufforderung des Herrn an Abraham: »Geh vor mir und sei untadelig!« (Gen 17,1). (GeEx, 1)“

Maria – ein Spiegel, in den wir schauen sollen

Gertraud hat diesen Ruf zur Heiligkeit zu ihrem eigenen gemacht, vor allem in ihrer Entscheidung, als Mitglied des Apostolischen Bundes von Schönstatt an sich selbst zu arbeiten und missionarisch tätig zu sein. Dabei spielt die Gottesmutter Maria eine wichtige Rolle. Sie ist wirklich dabei, wenn Gertraud – und mit ihr viele andere Frauen – der Einladung zur Heiligkeit folgen. In einem Bericht über die erste Frauentagung im Sommer 1921 in Schönstatt schreibt Gertraud:

Zum Abschied versammelten wir uns wieder im trauten Kapellchen und lauschten dem Schlussvortrag. Zeige, dass Du unsere Mutter bist, ja das war die Bitte unserer Herzen; zeige, dass Du mein Kind bist, so ruft uns die Mutter zu. Zeige, dass Du mein Kind bist. Nie eine freiwillige Sünde, dieser erste und wichtigste Grundsatz eines Christen muss uns ganz erfassen. Wer den Sohn betrübt, betrübt die Mutter. Wie mache ich der Mutter Freude, das soll unsere ständige Frage sein. Wir wollen aus Liebe zu ihr arbeiten und nicht aus Furcht, also eine positive Arbeitseinstellung, die den Maßstab der Tugend und nicht immer den der Sünde anlegt. Wer nur tun will, was er muss, braucht nicht in den Apostolischen Bund zu gehen. Eine Freude für die Mutter ist es auch, uns zu ihrem Sohne zu führen. – Ein Kind denkt an die Mutter, es schmückt ihr Bild, begeht die Feste so festlich als möglich (Samstagsheiligung). Es schaut aber auch voll Stolz auf seine Mutter und sucht sie nachzuahmen. Auch wir können stolz sein auf Mariens Größe und Schönheit, sie ist auch Spiegel, in den wir schauen sollen, um uns oft ihr zu vergleichen. Zeigen wir uns so als Kinder der Mutter, so brauchen auch wir nicht bangen und zagen, die Mutter verlässt uns nicht: »Servus Mariae nunquam peribit« (ein Diener Mariens geht nimmermehr zugrunde).

Berufung zur Heiligkeit – ganz konkret und im Alltag verankert

Diese Berufung spielt sich für Gertraud nicht jenseits des Alltäglichen ab – ganz im Gegenteil: sie vollzieht sich mitten im Alltag. Durch tägliche Pflichterfüllung gelangen wir zu unserem besseren Ich und zu Gott, der mit uns diesen Alltag gestalten, umwandeln und vollenden möchte. Er ist der eigentliche „Brunnen“ unserer Kraft. So schreibt Gertraud in einem Brief: 

Was die heutige Menschheit braucht, sind Heldenseelen, die den Alltag überwinden …, die ihre Pflicht genauso gut und treu erfüllen, ob sie dafür Ehre und Anerkennung oder Zurücksetzung und Spott ernten, die verzichten können auf Genuss … und Bequemlichkeit …, weil sie ihre Freuden aus tieferen Brunnen schöpfen, die reines, klares Wasser haben!

Papst Franziskus versichert uns: „Die Heiligen, die bereits in der Gegenwart Gottes sind, unterhalten mit uns Bande der Liebe und der Gemeinschaft.“ (Gaudete et Exultate, Nr 4). Wir dürfen hoffen, dass auch Gertraud mit uns die Bande der Gemeinschaft und der Liebe unterhält und mit uns unsere Berufung zur Heiligkeit gestalten und sie unterstützen will.

Dr. Alicja Kostka