Zum Fronleichnamsfest.
Ein Gedicht Gertraud von Bullions

Gertraud ist vor allem durch ihre Kunst des Briefeschreibens bekannt. Unzählige Briefe an einen breiten Freundes- und Mitarbeiterkreis in ihrem familiären und apostolischen Wirkungskreis zeugen von einem ungebremsten missionarischen Geist und tiefem Innenleben. Dem gegenüber ist ihre dichterische Kunst seltener und auch weniger bekannt. Eins der bekanntesten Gedichte, von einer seltenen Tiefe anlässlich des Fronleichnamsfestes, hat Gertraud ihrer Freundin Klara Effelberger gewidmet und geschenkt. Frau Effelberger hat noch nach Jahrzehnten dieses Gedicht aufbewahrt, zusammen mit anderen Abschriften aus ihrer Korrespondenz mit Gertraud. Bei einem Besuch der Mitglieder des Apostolischen Bundes hat sie im Interview bezeugt: „… das Gedicht ist so schön, das sie mir gemacht hat: ‚Meinem Klärle‘. Fronleichnam. Zum Fronleichnamstag hat sie mir das gemacht.“ Das Entstehungsdatum des Gedichts ist leider nicht eindeutig festzustellen; höchstwahrscheinlich ist es im Zeitraum 1922/1923 oder 1926 entstanden.

Das Gedicht gibt ein tiefes seelisches Erlebnis der Begegnung mit Jesus wieder während der Fronleichnamsprozession. Eine Anspielung an den Kreuzweg Jesu und Begegnung mit den Frauen drängt sich auf. Das Geschehen ist in dialogischer Struktur wiedergegeben und lädt zum Eintreten in diese Begegnung. Gott, der so real auf dem Weg entgegentritt – „geht vorüber“, kennt den Menschen durch und durch und durchschaut liebend seine innersten Sorgen und Nöte, mit der Liebe Gottes und seinem Vorhaben mitzuhalten. Was für ihn einzig zählt, ja sein Gefallen weckt, ist das Verlangen der Seele, die Bereitschaft, auf Gottes unendliche Liebe nach Möglichkeit Antwort zu geben. Aber ebenfalls wichtig ist es, dass der Mensch, so von der Liebe Gottes getragen, die Hoffnungen Gottes, die er in ihn hineingelegt hat, in die Werke der Liebe umsetzt. Dies ist die Sorge Gertrauds, einer adeligen Menschenseele. Diese Begegnung mit dem eucharistischem Herrn – auf dem Weg des Lebens – führt zur vertieften Erkenntnis eigener Schwäche, aber gerade dadurch zur tieferen Hingabe an Gott und seinen Plan der Liebe. Gertraud – und der Leser – geht aus dieser Begegnung gestärkt heraus. Das ist das Geheimnis dieses Gedichtes, das eine mystische Veranlagung der Autorin vermuten lässt. Diese Mystik in alltäglichen Erlebnissen, vor allem im Betrachten der Vorgänge der Natur, klingt in anderen Schriften, Aphorismen und Briefen mehrfach mit.

Dr. Alicja Kostka

Hier das Gedicht:

Fronleichnam

Der Herr geht vorüber – die Menge drängt dicht,
Doch sein Blick ruht auf Dir, weißt Du, was er spricht?
„Mein Kind, deine Pein, ich kenne sie wohl,
Der Liebe und Sehnsucht ist’s Herz Dir so voll.
Blick deshalb nicht trübe hinein in die Welt,
Die verlangende Seele ist’s, die mir gefällt!
Was ist’s mit den Satten, die immer nur ruhn,
Statt dass sie Werke der Liebe tun?

Das Leben ist Kampf, durch Täler zur Höh‘!
Zage nicht Seele, Dein Streiten ich seh‘.
Und bist Du ermattet im harten Strauß,
Sieh, liebend breit ich die Arme schon aus,
Wartend mit mütterlich-sehnsüchtigem Schmerz,
Dich, o mein Kind, zu nehmen ans Herz. –

Achte nicht Deiner Schwachheit und Schuld,
Hör‘ Deine Bitten, Deine Klagen voll Huld,
Fühl‘ Deiner Sehnsucht wild brennende Glut,
Wie Du es meinst – ich versteh Dich so gut.
Lass mich nicht warten, vertrau und komm,
Ich halt‘ Dir bereit meiner Liebe Wonn‘!“ –

Der Herr geht vorüber! – Wie himmlisches Licht
es plötzlich ins Dunkel der Seele mir bricht.
Mich fesselt das Brot! – – Ich sink‘ in die Knie!
„Mein Jesus, mein König, zu Dir hin ich flieh.
Mein Schifflein kämpfet in Sturm und in Not!
Gebiete den Wellen! Sei Du mein Pilot! –

Befehle im Schifflein, wie’s Dir dünket recht,
Du sollst sein Herr sein, und ich sei dein Knecht,
Nein – Knecht nicht – denn Liebe vereint mich Dir,
Gabst selbst den Titel des Kindes mir.
Drum hab‘ ich Dich lieb, wie arm ich auch bin,
Nimm, Jesus, mein König, nimm ganz mich hin!“

Der Herr ging vorüber. – Die Wogen sind glatt,
Weil Jesus Stille geboten hat.
Zwei Augen spiegeln Frieden und Ruh,
Und ringsum die Glocken jubeln dazu:
„Der Herr ging vorüber.“

(AGvB gvb-schr, für Clara Effelberger, um 1926; SERVIAM 1991, 153 f.; BS 74 f.)