Berufung

Berufung

Gertraud Gräfin von Bullion (1891 – 1930) lebte in einer Zeit großer politischer Umwälzungen in Europa. Genannt sei hier der Erste Weltkrieg, in dessen Folge die Vorrechte des Adelsstandes aufgehoben wurden. Sie lebte in einer Zeit, in der sich die Frauenbewegung formierte (1918 – Frauenwahlrecht), in der in der katholischen Kirche die Berufung der Laien wach wurde. In den zwanziger Jahren wurde die Katholische Aktion ins Leben gerufen. In dieser Zeit suchte Gertraud ihren persönlichen Weg als Frau und Laie.

Lass mich eine Missionsschwester werden

Gertraud war eine junge, intelligente und lebensbejahende Frau, eine Frau, die anpacken konnte, wo Not war, eine Frau, die das gesellschaftliche Leben liebte, die Ideen hatte, die sich schon als Mädchen intensiv mit ihrem Leben und dem Glauben auseinandergesetzt hatte. Ihre religiöse Veranlagung fand in der Höheren Mädchenschule der Mary-Ward-Schwestern in Augsburg die notwendige Nahrung und wurde durch die klösterliche Atmosphäre der Institute der Sacré-Coeur-Schwestern gefördert. Gertraud wusste bereits an ihrem Erstkommuniontag (1903), was sie werden wollte, und hielt es schriftlich fest: „Lieber Gott, … Lass mich eine Missionsschwester werden.“ Als Kind veranstaltete sie jedes Jahr im Familienkreis eine Lotterie für die sogenannte „Heidenmission“. Aber nicht nur finanziell wollte sie die Mission unterstützen. Ihren Glauben an Jesus Christus, der sie erfüllte und froh machte, wollte sie den Menschen künden.

SERVIAM – dienen will ich

Ein weiterer Schritt auf ihrem Weg war die Aufnahme in die Marianische Kongregation. Zu diesem Zeitpunkt (1908/09) war Gertraud zur Ausbildung in England. In ihre Kongregationsmedaille ließ sie das Wort „Serviam“ – dienen will ich – eingravieren, die Devise der Könige. Dieses „Serviam“ war die Grundhaltung ihres Lebens. So schloss sie sich nach ihrer Rückkehr nach Augsburg nicht der Marianischen Kongregation für Töchter aus vornehmen Familien an, sondern der Kongregation bei der Kapuzinerkirche St. Sebastian, der vor allem Bürgermädchen, Hausangestellte und Fabrikarbeiterinnen angehörten. Hier hatte sie ein weites Feld für ihr Apostolat gefunden. Das war Gertraud aber nicht genug. Ihr großes Ziel war, Missionsschwester zu werden. 

Gesellschaftliches Leben/Heirat

Gertraud nahm mit Freuden am gesellschaftlichen Leben teil. Sie liebte Musik, Konzerte, Theater und Tanz. Der tägliche Besuch der heiligen Messe gehörte ebenso zu ihrem Tagesablauf. Wenn es sein musste, ging sie mit dem Ballkleid unter dem Mantel morgens um 5 Uhr zur heiligen Messe. Gertrauds Vater wollte seine Tochter, die er sehr liebte, verheiraten. Diesem Wunsch stellte die damals 22-Jährige ein klares Nein entgegen.

Erster Weltkrieg

Der Erste Weltkrieg führte Gertraud ganz andere Wege. Die Offizierstochter meldete sich freiwillig beim Roten Kreuz und bot ihre Dienste an. Bei ihrem Einsatz an der Westfront vom September 1915 bis zum Ende des Krieges erlebte sie die furchtbaren Kämpfe mit ihren unzähligen Opfern und Verwundeten. Im Lazarett war Gertraud nicht die Gräfin, sondern Schwester Gertraud. In dieser Rolle fühlte sie sich wohl. Darüber hinaus hatte sie in der Sorge um die Soldaten ebenfalls ein weites Feld für das Apostolat. Sie ging dem Lazarettgeistlichen zur Hand und half bei der Gottesdienstgestaltung. Mit Freude und Hingabe sorgte sie sich um die Musik und verschönte mit einem kleinen Chor die Feiern. Besonders wichtig war ihr, den Herz-Jesu-Freitag, die Marien- und Kirchenfeste, besonders Weihnachten, festlich zu begehen. Aber sie setzte sich auch für die einzelnen verwundeten Soldaten ein, sprach ihnen Mut zu und tröstete sie.

Erste Begegnung mit Schönstatt

Für Gertrauds persönlichen Lebens- und Berufungsweg und für ihre künftige Lebensgestaltung war die Begegnung mit dem Sanitätsunteroffizier Franz Xaver Salzhuber von großer Bedeutung. Zusammen mit anderen Theologen und Interessierten lud er im Lazarett zu regelmäßigen religiösen Zusammenkünften ein. Seine Persönlichkeit, sein Umgang mit den Menschen und sein Glaubenszeugnis fielen Gertraud auf. Sie spürte, er ist etwas Besonderes. Bald kam sie hinter sein Geheimnis. Franz-Xaver Salzhuber war Sodale der Marianischen Kongregation des Studienheimes in Schönstatt. Durch ihn lernte Gertraud ihre Ziele und den Gründer, Pater Josef Kentenich, kennen. Der Funke sprang über, Gertraud fing Feuer und wollte auch mitmachen. Das Ziel Schönstatts, sich im Liebesbündnis mit Maria, der Dreimal Wunderbaren Mutter von Schönstatt, für die religiös-sittliche Erneuerung der Welt einzusetzen, traf ihr innerstes Anliegen. Sie setzte sich mit Pater Kentenich in Verbindung. Dieser spürte ihre Ernsthaftigkeit und die Suche nach ihrer Berufung. 

Nach dem Ersten Weltkrieg

Nach Ende des Ersten Weltkrieges kehrte Gertraud nach Augsburg zurück. Vor ihr lag ein neuer Lebensabschnitt. Sie war 27 Jahre alt. Gerne hätte sie sich in Musik und Gesang oder in der Krankenpflege und sozialen Frauenarbeit weiter ausbilden lassen, aber die Verwirklichung dieser Wünsche scheiterte an ihrer bald einsetzenden Krankheit, an den Zeit- und Familienverhältnissen. Diese Umstände ließen es auch nicht zu, in einen Missionsorden einzutreten. Sie erkannte die Bedeutung der Missionsarbeit im eigenen Umfeld, denn sie spürte, wie sehr sich die Menschen Gott entfremdet hatten. Einem Priester in einer Großstadt schrieb sie: „Ich möchte diesen Missionsdienst an dem gottentfremdeten Proletariat unserer Städte eigentlich noch höher stellen als den Missionsdienst in den fremden Ländern.“

Schönstatt

Gertraud blieb weiterhin mit Franz Xaver Salzhuber in Briefkontakt und bezog von Schönstatt die Zeitschrift MTA. Ihre Verbundenheit zu Schönstatt vertiefte sich, und ihr Wunsch, sich dieser Bewegung anzuschließen, wuchs. Mit der Gründung des Apostolischen Bundes für Theologen und Männer am 20. August 1919 gab es eine Gemeinschaft, in der die Ideale, die in Gertraud lebendig waren, eine konkrete Form gefunden hatten. Zum Bund rechneten alle, die eine enge Gemeinschaft in Nah- oder Ferngruppen, das Ideal größtmöglicher Vollkommenheit und apostolischer Betätigung auf allen erreichbaren Gebieten erstrebten. Er wollte eine neuartige Führergemeinschaft sein, deren Mitglieder um ernste Selbsterziehung zur Formung christlicher Persönlichkeiten rangen.

Die nächsten Schritte

Gertraud bat Pater Kentenich um Aufnahme in den Apostolischen Bund. Diese Bitte war für ihn ein Anstoß. Er war überzeugt, dass Frauen wertvolle Mitglieder sind. Im Juni 1920 gewann Gertraud auch ihre Cousine Marie Christmann. Im Oktober 1920 wurde ihnen mitgeteilt, es stünde nichts im Wege, als Frauengruppe des Bundes offiziell ins Leben zu treten.

Gründung des Apostolischen Bundes für Frauen

Am 8. Dezember 1920, dem Hochfest der Gottesmutter, weihten sich Gertraud von Bullion und Marie Christmann der Dreimal Wunderbaren Mutter. Mit dieser Weihe legten sie den Grundstein für die ganze Frauenbewegung Schönstatts. Voll Verantwortung und mit ganzer Kraft setzten sie sich für die Sendung Schönstatts und für das Wachstum ihrer Gemeinschaft ein.

Aus dieser Gemeinschaft entwickelte sich im Laufe der nächsten Jahre das Institut der Schönstätter Marienschwestern(1926). Gertrauds innigster Wunsch, Marienschwester zu werden, konnte nicht in Erfüllung gehen. Kaum vier Wochen nach der Weihe erkrankte sie ernstlich. Sie hatte sich während ihres Pflegedienstes in den Kriegslazaretten mit Lungentuberkulosebazillen angesteckt. Trotz Krankheit widmete sich Gertraud mit all ihrer Kraft dem Apostolischen Bund (heute Schönstatt-Frauenbund) und investierte ihre ganze Liebe in seine organisatorische und spirituelle Entwicklung.

Berufung: Missionsschwester

Gertraud von Bullion wollte Missionsschwester werden. Dieser Wunsch ist für sie in der traditionellen Form der Kirche nicht in Erfüllung gegangen. Im Ringen um ihre Berufung schrieb sie einmal: „Mein Sinn stünde nach berufsmäßigem Laienapostolat. Ob ich dazu berufen bin und wo?“ Zu diesem Laienapostolat wurde sie hingeführt, dessen Bedeutung aber erst durch das II. Vatikanische Konzil ernsthaft erkannt wurde. Gott erfüllte Gertrauds Berufswunsch auf andere Art und Weise. Sie war Missionarin in ihrer Umgebung und Werkzeug für den Aufbruch der großen weltweiten Frauenbewegung von Schönstatt.