Warum hast du mich verlassen!
Gott in schönen und gesegneten Tagen zu entdecken kommt nicht schwer. Ihn aber in belastenden und enttäuschenden Erfahrungen des Lebens zu finden, bleibt eine Herausforderung. Jesus selbst wurde von dieser Erfahrung nicht ausgenommen; auch er hat gerungen, den Kelch des Leidens, den ihn Gott, sein Vater, bereithielt aufzunehmen.
In den Stationen seines Kreuzweges war Gott dabei. Hat Jesus die Nähe seines Vaters gespürt? Aus Evangelien wissen wir, dass seine Mutter den ganzen Weg mit ihm ging, bis in die Stunde des furchtbaren Sterbens. In den letzten Augenblicken des Leidens Jesu war beides da: Die Nacht der Einsamkeit, die in den Worten zum Ausdruck kam: Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen? Und letztendlich das ergebene Wort: „Vater in deine Hände lege ich meinen Geist.“
Wenn das Leid uns überraschend heimsucht
Gertraud wurde sehr früh der Weg des Leidens und der erzwungenen Untätigkeit durch die unerwartete Krankheit zugemutet. Er war ein Kreuz für sie und für ihre aktive zur Tat drängende Natur. Sie konnte die Veränderung ihres äußeren Aussehens, die schwindende Energie buchstäblich wahrnehmen und beobachten. Diese Erfahrung teilte sie mit einem befreundeten Priester, der ebenfalls schwer erkrankt war. Offen und ehrlich spricht Gertraud ihren Zustand und die eingetroffene Veränderung an:
Mein guter Lauer, Sie würden in mir kaum mehr die Schwester Gertraud von Mons wieder erkennen. Ich kenne mich oft selbst nimmer, so hat das Bild sich geändert. Die Last, die heimliche, die ich trage und die meinen Schritt hemmt, das Auge verdüstert, es ist die mangelnde Bewegungsfreiheit in religiösen Dingen und im Schaffen. Der gefangene Vogel verlernt sein Lied, das er im wogenden Wind der Sonne entgegenschmetterte!
Aus: Briefe und Schriften
Die Nähe Gottes hinter dem Kreuz entdecken
Da Gertraud mit der Krankheit und besagter Untätigkeit schon länger vertraut war, teilt sie ihre Erfahrung mit dem erkrankten Priester und tröstet ihn: Hinter dem Leid verbirgt sich die Nähe Gottes. Sie ist die geheime Begleiterin des zugemuteten Leides.
Sie haben Recht, wenn Sie sagen, dass körperliche Unpässlichkeiten und äußerliche Misserfolge uns stark hemmen. Ich kann Sie aber auch aus Erfahrung versichern, dass, selbst wenn wir ganz darnieder liegen, getroffen von der Wucht des Kreuzes, dass es trotzdem die größten Gnadentage sind, die wir durchleben dürfen. Ich möchte z. B. keinen meiner Krankheitstage hergeben, obwohl sie mir so viel raubten, was mir als Lebensinhalt dünkte, sie haben mir Reicheres gebracht – Gottesnähe! Nicht immer, aber oft. Darum halte ich auch jetzt still, wo meine Seele in Dunkelheit liegt, einmal werde ich auch wieder mit Händen greifen dürfen, dass es Gnadentage waren. – Mein innigster Wunsch ist es, dass sie auch Ihnen unversiegbare Gnadenbronnen werden
Aus: Briefe und Schriften
Segnungen aus der Feier der Eucharistie
In ihrer Schwäche gibt sie offen zu, dass sie kaum Kraft zum Beten hat. Sie meint damit das Beten im Anliegen ihres kranken Freundes. Dennoch verlässt sie sich vertrauensvoll auf die Hilfe und Güte der Gottesmutter. Selber dankt sie für das Gebet des Priesters, welches ihr durch sein Feiern der Eucharistie zuteil kommt. Dies ist ja ein unvergleichbar größeres Geschenk als ihr schlichtes Gebet – wie sie mit Humor diesen heiligen „Tausch“ beschreibt.
Ich soll für Sie beten, wie gerne möchte ich’s tun, es ist nur so wenig und so armselig, dass Sie keinen Nutzen davon haben, es sei denn, dass unsere himmlischen vielliebe Mutter ein Einsehen hat und versteht, was ich sagen will und Sie in ihrer Güte mit Gnade und Segen überschüttet. Da bin ich viel besser daran, wenn ich von den unendlichen Werten des heiligen Opfers einen Teil abbekomme. Ja, schicken Sie mir diese heiligen Segnungen nur recht oft, ich brauche Kraft und Stärke, viel Kraft und viel Stärke, da ich von Natur aus keine mehr habe.
Aus: Brief an Nikolaus Lauer, 3.3.1923
Alicja Kostka